Musikalisches Lernen

Musik ist Bewegung

Im Spannungsfeld zwischen Selbsterfüllung und Professionalität
Eine Anleitung zum Selbstmanagement

Musikmachen ist "angesagt". Flächendeckende Projekte zur frühen musikalischen Förderung von Kindern haben ebenso Konjunktur wie das seit ca. 20 Jahren erwachende Interesse an Musikermedizin und Musikphysiologie.
Das teilweise enorm hohe Leistungsniveau vor allem auch junger Musiker hat in den gleichfalls hohen Anforderungen des Berufs seine Entsprechung - allerdings auch in den nicht geringen Zahlen von Musikern, die mit Spiel- und Stimmbeschwerden, Überbelastungen, Bühnenängsten bis hin zur "Fokalen Dystonie" zu kämpfen haben.
Was ist es, was das Musikmachen an sich zum allgemeinen "Entwicklungstrigger" von Menschen berechtigt?
Welche Bedeutung haben diese Aspekte im Hinblick auf eine geglückte und gesunde Entwicklung zum Berufsmusiker?
Was können in diesem Zusammenhang neurophysiologische Erkenntnisse über das Lernen und das Wissen über die Funktionalität des Bewegungsapparats beitragen zum Gelingen musikalischen Lernens?

Teil I Musik ist Bewegung
Musik ist Bewegung und bewegt werden - durch Musik. E-motionen sind demnach letztlich motorische Prozesse und drücken sich in körperlichen Gestalten aus. Dieser, wenn auch noch unwillkürliche, Gestaltungsprozess beginnt schon im Mutterleib, wenn das Kind den rhythmischen Herzschlag der Mutter, ihre Bewegungen und Bewegtheiten als Ausdruck der es umgebenden Welt erfährt.
Kinder reagieren auf Musik spontan mit Gesten, durch Klatschen und Tanzen. Für Musiker ist Musik die universale Sprache, mit deren Hilfe auch Unsagbares ausgedrückt werden kann. Musikmachen, Singen, Dirigieren und Instrumentalspiel haben ihren Ursprung genau wie die menschliche Sprache in frühen Körpergesten, also in Bewegung.

Hand und Hirn
Dabei spielen neben den Sprachwerkzeugen die Hände des Musikers eine herausragende Rolle. An der embryonalen Entwicklung wird die generelle Bedeutung der Hände für den Menschen sichtbar: Beim Embryo werden sie zu "Tentakeln" in Richtung Außenwelt. Sie sind das Werkzeug, mit denen der Mensch empfangend und gestaltend in Kontakt tritt zur Welt.
Die neuronale Repräsentation der menschlichen Hand und ihren Möglichkeiten nimmt neben der der Lippen und Zunge einen vergleichsweise großen Raum auf der Hirnrinde ein. Es gilt inzwischen als erwiesen, dass dieses neuroplastische Phänomen nicht die Ursache sondern die Folge des immer differenzierteren Gebrauchs der menschlichen Hand ist.
Dementsprechend verfügen die Fingerspitzen des Menschen neben Zunge und Lippen über die kleinsten "Motorunits" d.h. die größte Dichte an Nervenzellenenden im ganzen Körpers. Es existiert also ein unmittelbarer und präziser Informationsaustausch zwischen Hand und Hirn. Instrumentalisten erfahren eine oft ungeahnte Leichtigkeit und Ausdrucksfreiheit, wenn sie beim Spielen "in den Fingerspitzen" sind. Liegt hier der Initiativpunkt ihrer Bewegungen, werden komplizierte Bewegungsanalysen überflüssig. Über Benjamin Britten z.B. sagt man, dass er beim Musizieren über diese glückliche Verbindung zwischen Geist, Herz und Fingerspitzen verfügt habe. Wenn er das Klavier berührte, schienen seine Fingerspitzen wie "elektrisiert".

Bewegung ist Ausdruck
Musiker gebrauchen ihre Hände affektiv und es ist ihnen kaum möglich, ohne Ausdruck zu spielen. Daher verwundern neuroanatomische Befunde nicht, die stark ausgeprägte Verbindungen zwischen den sensomotorischen Regelkreisen und dem für die Steuerung der Affekte zuständigen limbischen System dokumentieren. Schon ein "Händedruck" sagt viel über die Persönlichkeit und emotionale Gestimmtheit eines Menschen - und mit der "Faust in der Tasche" lebt es sich anders als mit leicht geöffneten Händen...
Bei der Beobachtung von Dirigenten wird diese Wechselwirkung besonders deutlich: Man sieht an ihrem Bewegungsstil, wie sie selbst über Musik denken. Man hört am Orchesterklang, was die Sprache ihrer Hände bewirkt. Spiegelneuronen sind verantwortlich für dieses Phänomen, das auf allen Beziehungsebenen, natürlich auch in instrumentalpädagogischen Prozessen eine nicht zu überschätzende Rolle spielt.

Entscheidend ist, was der Mensch tut
Durch die vielfältige Vernetzung insbesondere zwischen Hand und Hirn hat alles, was der Mensch (mit seinen Händen) tut, auch direkten Einfluss auf seine eigenen inneren Vorstellungen, Gedanken und Gefühle. Der Mensch formt sich selbst in seinem Tun! In den neuroplastischen Repräsentationen, die sich aus motorischen Erfahrungen geformt haben, spiegelt das Gehirn eines Menschen sein ganz individuelles Bild der Wirklichkeit. Diese Tatsache wirft ein Licht auf den elementaren Einfluss des Musizierens für den Menschen. Darüber gewinnt die folgende Frage für die Musikpädagogik besonderes Gewicht: Was/Wie soll gelernt werden?!

Stehen als kreativer Prozess
Ein Hund kann nicht Klavierspielen. Er hat die Hände nicht frei! Diese schlichte Erkenntnis wirft ein Licht auf die spektakulärste Errungenschaft der Evolution: Die menschlichen Aufrichtung. Als die Vorderbeine nicht mehr zum Stehen gebraucht wurden, begann sich das menschliche Gehirn sprunghaft zu entwickeln und Repräsentationen für Sprache und "Handeln" bereit zu stellen. In diesem Sinne ist auch das zum Stehen Kommen des Kindes ein kreativer Prozess und die Voraussetzung für die Wunder, die menschliche Hände hervorbringen können.
Kreativität und Autonomie wären ohne Aufrichtung nicht möglich.
Im Musikunterricht und beim Üben ist der Fokus oft nur auf die Hände, die Atmung, den Ansatz, den Klang usw. gerichtet. Um sich wirklich frei bewegen, atmen und sich ausdrücken zu können, sollten Oberkörper, Arme und Hände von - oft unbewusster Haltespannung - frei sein. Deshalb ist es sinnvoll, im Unterricht und beim Spielen mehr Aufmerksamkeit auf die vorbereitende Haltung zum Instrument zu legen. Dazu gehört gegebenenfalls auch eine sorgfältige Auswahl der ergonomischen Hilfsmittel wie Stühle, Stützen, Gurte etc., um in diesem Sinne Halten von Bewegen zu trennen.

Musizieren und Reifen
Wenn Menschen die Chance haben, über den Umgang mit ihrem Instrument eine gute körperliche Disposition zu entwickeln, ist dies ein nicht zu überschätzendes Kapital für ihre gesamte Persönlichkeitsentwicklung. "Stehen wie ein Baum" richtet nicht nur "mechanisch" auf - es löst bei Kindern ein Gefühl von Freude und Stolz aus. Auch für erwachsene Musiker liefert die Beschäftigung mit ihrer eigenen Disposition oft neue Impulse für ihre individuelle künstlerische Entwicklung.
Ein Blechbläser kämpfte jahrzehntelang mit Unsicherheit bezüglich seines Ansatzes. Er hatte immer wieder neue Lehrer aufgesucht in der Hoffnung, jemanden zu finden, der ihm "die Wahrheit" zeigt. Nach mehrmaliger vorübergehender Besserung hatte sich das alte Problem immer wieder eingestellt. In der dispokinetischen Arbeit war die Verlagerung des kompressiven Elements der Atmung in die Körperstütze für ihn ein wichtiger Schritt. Daraufhin konnte er erfahren, mit wie wenig Ansatzspannung er eigentlich auskam, und differenziertere Muster für Artikulation, Höhe und Tiefe usw. entwickeln. Entscheidend allerdings war die Entdeckung, dass sich in seinem aktiven Stehen nicht mehr der alte Zweifel, sondern Kompetenz ausdrückte. Alles, was er als Vorbereitung für das Trompetespielen brauchte, war in dieser Verkörperung von Kompetenz enthalten! Dieses Körpergefühl erinnerte ihn an seine alte Unbekümmertheit, mit der er vor dem Studium Trompete gespielt hatte. Für ihn als erwachsenen Musiker und Lehrer ist dies nun endlich die angemessene Form, in der er nicht mehr der Fragende ist, sondern derjenige, der die Führung übernimmt. Seine Gewissheit kommt aus dem, was er "am eigenen Leibe" erfahren hat.
Bei Sängern können sich nicht nur eine falsch verstandene "Lockerheit", sondern auch tiefsitzende Gefühle von Unvermögen, Scham, oder die Angst vor der eigenen Aggressivität im Aufgeben der körperlichen Spannkraft widerspiegeln. Das daraus resultierende stimmliche Forcieren führt zu schneller Überbeanspruchung und Enge im Klang.
Umgekehrt "garantiert" diese körperliche Organisation das Fortbestehen des negativen Selbstbilds. In einem solchen Fall ist das Fokussieren des (nicht gut funktionierenden) Stimmapparates contraindiziert. Stattdessen geht es zunächst einmal um die Auflösung der körperlichen "Indisposition" und die Entwicklung eines neuen (motorischen) Selbstbildes:
Aktiv zu Stehen ist nichts anderes als eine elementare Verkörperung von Widerstand - gegen die Schwerkraft. Nicht nur für das kleine Kind ist dies der entscheidende Entwicklungsschritt auf dem Weg zur Autonomie. Widerstandleisten kann Spaß machen, es ermöglicht Abgrenzung und gibt dem Menschen Gelegenheit, sein Vermögen zu spüren, zu "bestehen". Der motorische Erfahrung von Widerstand führt zu körperlicher Stabilität und Selbstvertrauen. Dies erlaubt ein müheloseres Zugehen auf die Welt.

Den neuromuskulären Dialog beleben
Das Gehirn speichert die Erfahrungen motorischer Aktivität in synaptischen Verschaltungen. Bei ausreichender Wiederholung und deutlichen sensorischen Reizen entstehen stabile Repräsentationen, in denen sich Vorstellungen materialisieren. Das Wechselspiel zwischen sensorischem Input (der Erfahrung, wie sich etwas anfühlt, wie etwas klingt oder wie ich etwas tue) und der daraus resultierenden motorischen Antwort nennt man "sensomotorisches Feedback". Ein gut entwickeltes sensomotorisches Feedback bedeutet nicht mehr und nicht weniger als "zu wissen, was ich tue und wer ich bin". Der Erwerb dieses inneren Dialogs ist die erste und wichtigste Funktion des Übens von Musikern!
Musikalisches Lernen ist Bewegungslernen und in diesem Sinne eine elementare Chance zur Entwicklung von Wahrnehmung, Körperbewusstsein, Motorik und Selbstausdruck. Die weiter oben skizzierten Zusammenhänge machen deutlich, dass Persönlichkeitsentwicklung und Reifung letztendlich motorische Prozesse sind. Musik als Bewegungskunst beansprucht auf diesem Weg mit Recht eine zentrale Rolle.

Teil II Berufsmusiker sein - ein Dilemma?
Wie lassen sich die Liebe zur Musik und ein großes Ausdrucksbedürfnis mit den alltäglichen Herausforderungen eines Musikerlebens verbinden?
Wie kann ein Musikmachen angesichts von Perfektionsanspruch, Leistungsdruck und Konkurrenzkampf ein "Spiel" bleiben?

Krisenmomente
Es sind oft die Übergänge in der Biographie von (angehenden) Musikern, in denen Beschwerden auftreten und zum Innehalten zwingen.
Bis zum Schulabschluss hat Musikmachen einfach Spaß gemacht! Mit Studienbeginn erhöht sich der Übeeinsatz oft beträchtlich, und zwar nicht nur zeitlich, sondern auch was den muskulären Einsatz betrifft: Plötzlich wird gekämpft, um die berufliche Zukunft, im Konkurrenzkampf mit den Kommilitonen usw.. Aus Hingabe wird Ehrgeiz, der sich in Verspannungen verkörpert und den Musiker darüber hinaus dazu verführt, beginnendes Unwohlsein (das sich manchmal auch als Lustlosigkeit zeigt) zu missachten. Eine solche Entwicklung ist gefährlich, weil sie das sensomotorische Feedback nach und nach gewissermaßen zum Schweigen bringt. Wenn die Belastungen bestimmte Grenzen überschreiten und das Gewebe verletzt wird, sind die Signale nicht mehr zu überhören. Im anderen Fall sind es z.B. ungünstige Ansatz- oder Bewegungsmuster, die sich unter einem geringeren Übeaufwand noch nicht negativ bemerkbar machten, aber nun durch die erhöhte Belastung zum Vorschein kommen. Gleiches gilt für die Vorbereitungsphasen auf Prüfungen, Wettbewerbe, Probespiele usw., sowie für Zeiten der Ermüdung im teilweise frustrierenden Orchesteralltag. Auch Alterungsprozesse, die sich nach und nach bemerkbar machen, erzeugen Unsicherheit und Angst. Solche Krisen geben Musikern Anlass, über ein gutes "Selbstmanagement" nachzudenken..

Alte und neue Muster
Fehlende oder ungünstige Vorstellungen von Atmung, Ansatz und Bewegungsabläufen sowie ungenügende Lösungen im Bereich der Ergonomie vermischen sich im Laufe der Entwicklung von Musikern oft mit Stereotypen ihrer unbewussten Haltungs- und Bewegungsmuster:
Ein Bratscher kommt mit schmerzhaften Verspannungsproblemen im linken Daumen in die Praxis. Sein Vibrato ist nicht zufriedenstellend und er traut seiner Intonation nicht, weswegen er beim Spielen den Kopf stark nach links dreht, um auf das Griffbrett zu schauen. Er stabilisiert sein Instrument, indem er seine linke Schulter nach vorne und oben zieht und es mit dem Daumen zusätzlich abstützt. Nacken und Unterkiefer sind angespannt.
In seinem allgemeinen Haltungsausdruck sowie im Gespräch zeigt dieser junge Mann eine ausgeprägte Adzentrizität und Introvertiertheit. Beim Spielen erlebt man seinen leidenschaftlichen Ausdruckswillen, der sich in großen Bewegungen und einem hohen Muskeltonus verkörpert. Trotz seiner bisher recht erfolgreich verlaufenden Ausbildung quälen ihn Selbstzweifel, die sich besonders auf der Bühne hemmend auf seine Spielmotorik auswirken. Er gibt an, dass seine Hand auch beim Schreiben schnell verkrampft.
In diesem Beispiel wird deutlich, wie sich ein stereotypes Haltungsmuster auch im Handgebrauch wiederfindet, und wie sich dieses Grundmuster in der ergonomischen Ausgangssituation sowie in den Haltungs- und Bewegungsmustern am Instrument verstärkt. Es ist offensichtlich, dass es sich letztlich um ein Ausdrucksmuster handelt, das sich auf den verschiedenen Ebenen verkörpert und gewissermaßen stabilisiert. Daher genügt es nicht, die ergonomische Situation zu optimieren und die Spielspannung zu verringern. Wenn dieses Grundmuster nicht bewusst gemacht und verändert wird, kann es zu keiner wirklichen Änderung kommen. Körperhaltung, Spielbewegungen usw. sind als Vorstellung in Form eines motorischen Selbstbilds gespeichert und deshalb dominant.
Am Anfang steht die Bewusstwerdung und Verbesserung der allgemeinen Disposition, in diesem Fall die Entwicklung eines größeren Raumgefühls und zielgerichteter Bewegungsvorstellungen, zunächst einmal ohne Instrument. Das Erleben einer tiefen reflektorischen Atmung durch das Aufgeben seiner Anspannung im Kiefer ist für ihn ein Schlüsselerlebnis und führt zu einer neuen "Gelassenheit". Introvertiertheit, mangelndes Selbstvertrauen usw. sind körperliche Organisationen, die in dem Maße, wie sie sich verändern, auch andere Gefühle und Selbstbilder hervorrufen.
Der feinmotorische Daumen
Parallel dazu sind feinmotorische Übungen zur Entwicklung der Schreibhand und des Daumens notwendig. Motorische Unreife zeigt sich fast immer auch in einem grobmotorischen Gebrauch des Daumens, bei dem der Daumen als Opponent Haltearbeit verrichtet, statt wie ein Finger feinmotorisch zu agieren. Ein sanftes Training der Antagonisten des M. opponens und das Einfühlen in feinmotorische öffnende Bewegungsvorstellungen sind notwendig, um dem Daumen eine differenziertere feinmotorische Arbeit am Instrument zu ermöglichen.
Vorstellungsänderung
Das Gehirn denkt ganzheitlich in Gestalten. Deshalb wirken Vorstellungsänderungen im Makrobereich des Körperausdrucks auch auf die Hände - und umgekehrt! Durch Wiederholung entstehen nach und nach neue synaptische Verschaltungen, die dazu führen, dass neue Muster neben den alten immer öfter gebraucht werden und sich stabilisieren. Auf der Basis eines "neuen Grundmusters" ist die Übertragung auf das Instrument möglich, weil es schon Vorstellungen gibt, die eine andere motorische Antwort z.B. auf Klangvorstellungen ermöglichen.
Die Verbesserung der ergonomischen Situation, also in diesem Fall eine Optimierung von Kinnhalter und Schulterstütze, entlastet nicht nur die entsprechenden Muskelpartien, sondern hilft auch, das vertraute Grundmuster zu verändern. Dies erhöht die Bereitschaft des Nervensystems, sich auf Neuigkeiten einzulassen.

Beim musikalischen Lernen gibt es keine "Stunde Null"! Der beim Lehrerwechsel häufig gesprochene Satz: "Vergiss alles, was Du bisher gelernt hast, wir fangen noch mal ganz von vorne an" ignoriert die Tatsache, dass Menschen, auch Kinder, schon mit persönlichen und erworbenen Mustern in die erste Stunde kommen. Alles, was sie bisher gelernt haben, hat sich verkörpert und "spielt mit".

Wahlmöglichkeit erzeugt Kompetenz
"Ich muss mich doch nicht ändern?" Diese wunderbar ehrliche Frage einer Querflötistin bei einer Erstanamnese ist nichts weiter als der Ausdrucks dessen, wie der Organismus - und das Gehirn ist ein Teil davon - funktioniert: Grundsätzlich ist er darauf aus, Vertrautes zu bewahren, weil dies Sicherheit garantiert. Das "Argument" für eine Veränderung ist, dass sich etwas besser anfühlt als erwartet und Vorteile bringt - dann wird gelernt! Im Laufe einer solchen Entwicklung werden alte Muster nicht gelöscht. Das Erwerben neuer Muster lässt jedoch Wahlmöglichkeit entstehen. An diesem Punkt zeigt sich die Begabung des Gehirns: Hat es die Chance, aus Erfahrung zu lernen, wählt es das Angemessene. Differenzierung führt offenbar zu Kompetenz. In diesem Sinne sollte Pädagogik nicht unbedingt auf eine frühe Festlegung des "einzig Wahren" und "Richtigen" ausgerichtet sein, sondern bei der Bereitstellung und Entwicklung von Möglichkeiten helfen.

Verbindungen schaffen zwischen Klang- und Bewegungsvorstellungen
Diese Erkenntnis kann Pädagogen helfen, ihre Rolle als Lehrer oder "Meister" neu zu überdenken. Manchmal, insbesondere in der Arbeit mit musikalisch Hochbegabten, ist eher die Begleitung eines Mentors gefragt, der dem Schüler hilft, seine Vorstellungen umzusetzen.
Ein 14-jähriger hochbegabter Junge zeigt auffallende mimische Mitbewegungen beim Cello- und Klavierspielen. Sie treten völlig unabhängig vom technischen Schwierigkeitsgrad des Stückes auf, d.h. sie sind nicht Ausdruck einer motorischen Überforderung. In der Arbeit mit ihm wird die "Schere" deutlich, in der seine intellektuelle und musikalische Reife auf der einen Seite und seine altersentsprechende emotionale und motorische Disposition auf der anderen Seite auseinander klaffen. Dieser Konflikt wird zum Ringen um den Klang und drückt sich in Verspannung aus.
Abgesehen von den schon oben skizzierten "basics" braucht er Hilfe, um sich seiner Klangvorstellungen bewusst zu werden und sie in Bewegung umzusetzen. Seine sprachliche Virtuosität und Phantasie ist in diesem Prozess eine große Hilfe: Wenn es ihm gelingt, seine zuvor ausgesprochene musikalische Vorstellung in eine "Bewegungssprache" zu übersetzen, entspricht das klangliche Ergebnis seiner Vorstellung und die mimischen Mitbewegungen bleiben aus.
Hierzu einige Beispiele:
Dynamik
Ein piano sollte nicht als Lautstärkeangabe, sondern als Ausdrucksqualität verstanden werden. Wenn es z.B. "Zartheit" meint - wie ist es, mit einem "zarten Bogen" zu spielen? Eine solche Vorstellung verhindert Vorsicht oder das Heben des Bogengewichts aus der Saite. "Vorsicht" führt leicht zur Hemmung eines unwillkürlichen Impulses und wirkt sich entsprechend negativ auf den Ausdruck aus. Genau wie beim Heben kommt es zu einem überhöhten Tonus der grobmotorischen Oberarmmuskulatur, was zu Verkrampfung und Zittern führen kann.
Forte und "Armgewicht"
In Verbindung mit Dynamik oberhalb von mezzoforte wird sowohl bei Streichern als auch Pianisten viel über "Armgewicht" gesprochen. Gerade diese gut gemeinte Vorstellung führt oft zu grobmotorischen Impulsen: Bei Streichern beispielsweise löst das daraufhin aktive Herunterziehen des Schulterblatts das Drücken des Bogens in die Saite aus. Demgegenüber kann die Vorstellung von "Bogengewicht" helfen, den Unterarm fallen zu lassen und wirklich (passives) Gewicht einzusetzen.
Abgesehen von Übungen zum Thema Unterarmgewicht half dem jungen Cellisten die Einladung, beim forte mit seinem Oberkörper auf das Cello "loszugehen", so als wollte er aufstehen. Eine zielgerichtete, offensive Haltung enthemmt auch bei Pianisten Reste von Haltespannung im Schultergürtel bzw. Biceps und ermöglicht den unmittelbaren Kontakt zur Saite bzw. Taste. Entsprechend präsent ist auch das klangliche Ergebnis.
"Kraft"
Kraft und Anstrengung sind grobmotorische Impulse und wirken sich hemmend auf Bewegungsabläufe aus. Regelmäßiges Muskeltraining für den Ansatz beispielsweise hat schon so manchen Bläser seine Karriere gekostet. Artikulationsprobleme, Schwierigkeiten mit der Höhe, eine ungenügende "Kondition" usw. weisen darauf hin, dass die orofasziale (mundmotorische) Muskulatur möglicherweise überfordert ist, weil sie fehlende körperliche Spannkraft kompensiert.

Lösungsorientiert Üben
1) Technik und Ausdruck sind nicht voneinander zu trennen. Technik hat als linkshemisphärische, eher analytische Qualität da ihren Sinn, wo sie in den Dienst des Ausdrucks gestellt wird. Gefühle, Geschichten, Bilder usw. sind ein Spezialgebiet der rechten Hemisphäre, die analog arbeitet und ganzheitliche Gestalten bereitstellt. Die Arbeit des Corpus Callosum, der Brücke zwischen diesen beiden Welten, läuft reibungsloser, wenn die rechte Seite vorausgeht.
2) Sinnloses Wiederholen ohne Aufmerksamkeit "in der Hoffnung, dass es klappt" ist eine der Ursachen für Überbelastungssyndrome. Anstatt ausschließlich das Ergebnis zu fokussieren, sollte der Dialog zwischen Klang und Bewegungsgefühl geübt werden. Auch motorische oder ungünstige Haltungs - und Bewegungsmuster können vermieden werden, wenn Musiker ihre (Körper-) gefühle aktiv in den Übeprozess integrieren und auf diese Weise angemessene Vorstellungen entwickeln.
Dies führt zu Verlässlichkeit von wieder abrufbaren Vorgängen, spart Zeit und schafft Sicherheit und Selbstvertrauen.
3) Musiker neigen dazu, das zu wiederholen und zu üben, was sie nicht können. Dieses Vorgehen ist fatal, denn auch ungünstige Muster werden gelernt! Üben kann demgegenüber ein aufmerksames Sammeln von Erfahrungen sein, mit dem Ziel, herauszufinden, was zum Erfolg führt.

"Wie fühlt sich das an?"
Die obengenannten Beispiele belegen die enorme Bedeutung von Vorstellung und Sprache beim Üben und im Instrumental- bzw. Gesangsunterricht. Worte lösen bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Vorstellungen aus. Je mehr sich ein Lehrer seiner eigenen Körpergefühle bewusst ist, desto differenzierter kann er seinen Schüler anleiten, ohne in ein "Tu, was ich Dir sage" zu verfallen. Eine rechtshemisphärische Sprache, die Raum lässt für persönliche Assoziationen, verhindert das Zustandekommen von "Stereotypen", in denen der Schüler versucht, Anweisungen zu befolgen, ohne das Gesagte in sein eigenes Körpergefühl integrieren zu können. So entstehen künstliche Muster, die erfahrungsgemäß auf die Dauer zu Beschwerden bis hin zur Fokalen Dystonie führen können.
Diese "Warnung" soll nicht hemmend wirken, indem sie Musikpädagogen einen zu großen Respekt vor ihrer Aufgabe einflößt. Sie soll auch nicht den Studenten von seiner Selbstverantwortung entbinden. Im Gegenteil!
Die Frage: "Wie fühlst sich das an?" kann für beide, den Lehrenden wie den Lernenden, im Unterrichtsprozess eine Hilfe sein.
Diese Frage ermöglicht es dem Lehrer, sich bewusst zu machen, was er selbst eigentlich tut, um nicht ins Analysieren zu verfallen.
Dem Schüler gestellt, kann dessen Antwort ein wichtiges Feedback für den Lehrer sein. Sie gibt Aufschluss darüber, wie sein Schüler "denkt", bzw. was seine Worte für eine motorische Antwort in ihm ausgelöst haben.
Drittens führt diese Frage, sich selbst gestellt, den Schüler Schritt für Schritt in seine Selbstverantwortung, indem sie ihm eine aktive Rolle in seinem Entwicklungsprozess zuweist.

Entlocken
Darüber hinaus ist die Aufmerksamkeit des Lehrers für die Körpersprache des Schülers der entscheidende Schlüssel, um dessen Entwicklung wirksam zu unterstützen. "Entlocken" nennt die Dispokinesis eine Unterrichtssprache, die mit der Körpersprache des Schülers im Dialog ist und auf den Ausdruck seiner Haltung und Bewegung reagiert!
Mit Hilfe einer bildhaften Vorstellung z.B. wird eine unwillkürliche motorische Reaktion "entlockt", die aus dem natürlichen Bewegungsrepertoire des Schülers stammt. Im Falle eines Änderungsprozesses ist dies ein Gegenentwurf zu einem künstlich angelernten Bewegungsmuster ("Stereotyp"), der die Basis für eine disponiertere Form bilden kann. Dies kann zu einer Art Aha-Erlebnis führen, verbunden mit Gefühlen von Ursprünglichkeit, Leichtigkeit, Freude und der Motivation, diese Erfahrung wieder aufzusuchen. Solche Erlebnisse lösen im Gehirn u.a. die Ausschüttung eines Belohnungshormons Dopamin aus, welches Speichervorgänge beschleunigen hilft und zum Lernen führt. Das gute Gefühl hilft dem Schüler darüber hinaus, sich von dem alten Muster zu distanzieren, indem er eine persönliche Wahl trifft und sich freiwillig für das entscheidet, was für ihn "richtig" ist.
Diese Methode ermöglicht die Bewusstmachung und Änderung stereotyper Muster (s.o.) und unterstützt die Entwicklung zu einer individuellen Disposition. Auch in der Arbeit mit Musikern mit Fokaler Dystonie hat sich dieser Ansatz als ein wichtiger Baustein bewährt.

Professionalität ist Verfügbarkeit
Der "berufsbedingte Muskelkrampf" von Musikern ist in seinem Erscheinungsbild ein unwillkürlich ablaufendes Bewegungsmuster, das sich in seiner Dominanz dem Einfluss der Betroffenen entzieht. Die teilweise scheinbar paradoxe Symptomatik und der damit verbundene Kontrollverlust vermitteln zunächst den Eindruck, das da etwas "verrückt spielt" im Gehirn.
Die weiter oben entwickelten neurobiologischen Zusammenhänge zwischen neuronaler Repräsentation und (motorischem) Verhalten legen allerdings die Vermutung nahe, dass auch ein solches Muster Ausdruck eines Lernprozesses ist. Dieser Blickwinkel erlaubt die Umformung der Diagnose in einen dynamischen "Arbeitsbegriff". Dementsprechend ist eine Heilung Ausdruck eines erfolgreichen Ab- bzw. Umlernprozesses. Die konkrete Strategie ergibt sich aus der Erforschung der Komponenten, die die Entstehung der Dystonie möglicherweise begünstigt haben.
Folglich besteht die Therapie darin, durch eine gezielte Veränderung des motorischen Verhaltens neue neuronale Repräsentationen zu kreieren.
In der Praxis zeigt sich, dass für das Zustandekommen einer Fokalen Dystonie die gleichen Parameter eine Rolle spielen können wie für weniger ausgeprägte stereotype Muster (s.o.). Einstudierte ungünstige Bewegungsmuster wie z.B. Kräftigungsübungen der feinmotorischen Muskulatur können ebenso eine Rolle spielen wie ein prinzipiell ungenügend entwickeltes sensomotorisches Feedback. Überdurchschnittliche Begabung, verbunden mit einer hohen Ambitioniertheit kann dazu führen, dass bestimmte Belastungsgrenzen "unbemerkt" überschritten werden. Dauerhafter Stress und unbefriedigende Lebensumstände setzen auch in diesem Zusammenhang die Toleranzgrenze des Organismus herab.
Viele Betroffene geben allerdings an, dass die Dystonie sie plötzlich und gerade auf dem Höhepunkt ihrer bisherigen Leistungsfähigkeit ereilte. Der Moment, in dem "alles möglich" schien, endete abrupt in einer Blockade. Möglicherweise deutet die neuromuskuläre Reaktion im Moment der Krise auf eine Überforderung des Nervensystems hin. Das dystonische Muster zeigt sich in einer Art motorischen Regression, in der häufig beugende Bewegungsaktivitäten und Verkrampfungen sowie "Schwächegefühle" den Ton angeben.
Das gehäufte Auftreten "typischer" Symptome sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich auch bei der Fokalen Dystonie um hochspezifische Ausdrucksmuster handelt, die Teil eines individuellen Entwicklungsprozesses sind.
Gegenstände des Umlernprozesses sind
- die Reorganisation des sensomotorischen Feedbacks durch Wahrnehmungsübungen, sowie
- die Neuorganisation neuronaler Repräsentationen durch gezielte Differenzierung des motorischen Verhaltens.
Neben dem weiter oben skizzierten dispokinetischen Ansatz des "Entlockens" positiver Bewegungsvorstellungen hat sich in der Therapie der Fokalen Dystonie ein weiteres behavioristisches Übungsverfahren bewährt, das sich der Methodik der *Formativen Psychologie bedient:
Der Übende lernt, ein unwillkürlich ablaufendes Bewegungsmuster willkürlich nachzuahmen. Diese "Spiegelung" bringt das Muster von neuem auf eine Ebene der Verfügbarkeit. Das schrittweise Intensivieren bzw. Desorganisieren des muskulären Einsatzes führt zur erneuten Differenzierung der Sensomotorik. Auf diese Weise wird der Dialog zwischen Muskulatur und Nervensystem von neuem in Gang gebracht.

Die Erfahrung willkürlicher Bewegungsteuerung sorgt Schritt für Schritt für die Wiederherstellung der persönlichen Einflussnahme.

Die Bühne als Brennglas des Lebens
Für nicht wenige Musiker ist die Bühne der Punkt, an dem sich das Dilemma ihres Musikerseins am deutlichsten zeigt: Eigentlich das Ziel all ihren Strebens und Übens, kann sie zu einem Ort der Frustration und Enttäuschung werden.
Bühnenangst wird erlebt als ein "Überfallenwerden" von Ängsten, Zittern, Verkrampfungen, Blackouts usw.. Die Erfahrung in der Arbeit mit Bühnenängsten zeigt jedoch, dass auf der Bühne nichts geschieht, was wirklich "neu" wäre. Vielmehr zeigen sich hier gewissermaßen im Brennglas Muster, die Menschen auch aus ihrem übrigen Leben kennen. Eines der entscheidenden Muster hat zu tun mit der Art und Weise, wie jemand in Kontakt geht. Genau wie das persönliche Kontaktmuster ist es nicht die Angst selber, sondern die Verkörperung dieser Angst, die den Musiker auf der Bühne am Spielen hindern und seine Ausdrucksmöglichkeiten herabsetzen können.

Selbstmanagement
Hier zeigt sich nochmals die enorme Bedeutung des Übens als Vorbereitung auf die Bühne. Stabilität und Freiheit beim Vorspielen sind körperliche Organisationen und wollen geübt sein! Ein zu hoher Muskeltonus beim Spielen beispielsweise kann möglicherweise "zu Hause" noch toleriert werden. Auf der Bühne aber kann durch die zusätzliche emotionale Anspannung eine Grenze überschritten und zur Ausdruckshemmung werden.
Eine junge Geigerin nahm seit ihrem 16. Lebensjahr Betablocker. Anfangs nur vor Konzerten eingenommen, führte die wachsende Abhängigkeit schließlich zu einem täglichen und hochdosierten Konsum. Der Versuch, mit Hilfe einer Psychotherapie die Angst und Abhängigkeit zu überwindern, war gescheitert. Sie hatte zwar eine Menge über sich selbst erfahren, an der Bühnenangst aber hatte sich nichts geändert. Abhängigkeit und Angst waren Ausdruck ihres Ausgeliefertseins, das sich in einer passiven und "losgelassenen" Haltung widerspiegelte. Erst als sie erlebte, wie sie sich selbst körperlich Halt geben konnte, gelang es ihr, den Teufelskreis zu durchbrechen und die Abhängigkeit zu überwinden.
Spannung erzeugt Abgrenzung und ist die motorische Voraussetzung für die Erfahrung von Identität. Selbstbestimmte muskuläre Aktivität eröffnet Möglichkeiten der persönlichen Einflussnahme und des Kontaktes mit sich selbst.
Umgekehrt taucht Spannung als Ver-spannung oft dort auf, wo sie den Musiker in seiner Ausdrucksfreiheit behindert: Im Schultergürtel, Armen Händen, in der Brust, im Kiefer usw. Diese unwillkürliche Reaktion ist ein Stressmuster und hat ihren Sinn in dem Bedürfnis nach Stabilität und Abgegrenztheit. Bühnendisposition bedeutet u.a., Stabilität und Abgrenzung eine Form zu verleihen, die nicht die Bewegungs- d.h. Ausdrucksfreiheit des Musikers hemmt, sondern ermöglicht.
Auf diese Weise können Musiker ihre Stressmuster als unwillkürliche "Überlebensstrategien" erkennen und in eine persönliche Bühnendisposition umformen.

Fazit
Das Dilemma des Musikerdaseins ist kein Schicksal, sondern eine Einladung zum kreativen Selbstmanagement.
In der Gestaltung des persönlichen körperlichen Ausdrucks liegt der Schlüssel auch zum künstlerischen Gestaltungsprozess.
Musikalisches Lernen bedeutet die Entwicklung einer persönlichen Ausdrucksform. Dies ist die Voraussetzung für immer wieder "unerhörte" musikalische Interpretationen.